Autor/en: Kathrin Müller
Verlag: Gebr. Mann Verlag
Erschienen: Berlin 2020
Seiten: 367
Buchart: Hardcover
Preis: € 79,00
ISBN: 978-3-7861-2824-3
Kommentar: Michael Buddeberg
Dieses Buch verdankt seine Entstehung einem Phänomen. In den Mustern spätmittelalterlicher Seidengewebe, vornehmlich aus italienischen Webereien, dominierte die Darstellung von Tieren. Der Grund liegt auf der Hand. Ebenso wie das Material und die Technologie, kamen auch die Muster aus dem Osten, aus Byzanz, aus dem Nahen Osten und aus dem mongolischen Weltreich des Dschingis Khan und seiner Nachfolger. Und es waren nicht die befremdlichen Ornamente oder unlesbaren Schriftbänder, die zur Nachahmung reizten sondern die exotischen Tiere, also, um hier ein Beispiel zu nennen, die Drachen. Da deren symbolische Bedeutung und ihre ikonographischen Besonderheiten den italienischen Webern natürlich nicht bekannt waren führte dies im Laufe der Zeit zu einer Europäisierung ihrer Darstellung. Doch dazu später mehr.
Zunächst das Phänomen: An der Schwelle zur Renaissance, im frühen 15. Jahrhundert, verschwanden recht plötzlich Tiere aus dem textilen Schaffen und machten mehr oder weniger stilisierten, großformatigen Pflanzenmotiven Platz, die das textile Design über die nachfolgenden Jahrhunderte bestimmen sollten. Interessant ist hier, dass diese Erscheinung auf Textilien beschränkt blieb und in keinem anderen künstlerischen Schaffensbereich festzustellen ist. Doch siehe da: In den flandrischen Tapisserien des 15. Jahrhunderts und, deren Vorbild folgend, auch in anderen europäischen Manufakturen feierte das Tiermotiv fröhliche Urständ. Freilich stand hier das jagdbare Tier und seine auf deren Ergreifung dressierten tierischen Gehilfen der Menschen ganz im Vordergrund. So fallen in den nicht wenigen Exemplaren überlieferter Jagd-Tapisserien, etwa in den Devonshire Jagd-Tapisserien im Londoner Victoria & Albert Museum neben der Staffage aus Fürsten und ihren Ehefrauen, den Jägern und Treibern die sehr naturnahen und lebendigen Tierdarstellungen auf.
Das Bindeglied, so will es das Buch vermitteln, ist die Tierzeichnung, die im späten 14. bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts, vor allem in Florenz, einer der zeitgenössischen Hochburgen für Macht und Kunst, eine erstaunliche Entwicklung erfuhr und sowohl in Qualität wie auch Quantität herausragend ist. Die Autorin belegt dies eindrucksvoll mit Werken aus der Hand und aus den Werkstätten des Giovannino de´ Grassi (ca. 1340-1398) und vor allem von Antonio Pisanello (1395- ca.1455). Der Naturalismus dieser Zeichnungen kommt nicht von ungefähr. Die Jagd war in jener Zeit nicht nur ein bevorzugtes höfisches Vergnügen, eine wichtige kulturelle Aktivität, sondern auch ein Sinnbild für Liebe, Liebesschmerz und Tugend. Die Fürsten unterhielten eigene Jagdparks und zum Tross der Jäger und Treiber gehörten wohl auch die Künstler, die, sei es am erlegten oder am lebenden Tier ihre Studien machten und Haut, Fell oder Gefieder naturgetreu und realistisch auf Papier bannten, welche von dort auch in die Kartons für Fresken und vor allem Tapisserien fanden.
Zurück zur Seide: Kein anderes Kunsterzeugnis des Mittelalters reicht an die Bedeutung der Seide als Bindeglied zwischen Ost und West und vor allem als Quelle des Flächenornaments heran. Als überaus kostbar und leicht zu transportieren ermöglichte sie dem Westen die Teilhabe an den Reichtümern der östlichen Weltregionen. Die importierten Gewebe aus den chinesischen und mongolischen Herrschaftsgebieten in Zentralasien und aus dem Nahen und Mittleren Osten, gaben mit ihren Darstellungen lebhaft bewegter Tiere entscheidende Impulse für die Entwicklung ähnlicher Muster in Italien. Das blieb auch so als im späten 12. Jahrhundert in Lucca und später in Venedig die ersten europäischen Seidenmanufakturen entstanden. Vom chinesischen Drachen, der in einer italienischen Seide zu seiner europäischen Form, einem zweibeinigen, geflügelten Wesen mutierte, war schon die Rede; die ursprüngliche mythologische oder ikonographische Bedeutung blieb auf der Strecke; das K´i-lin wurde zum Einhorn und der Vogel feng-huan zum Phönix sind hier weitere Beispiele.
Im 14. Jahrhundert wurden die italienischen Seidengewebe, die rasch den europäischen Markt für Luxusgewebe dominierten, eine Welt der Tiere. Die Weber in Lucca und Venedig überwanden das Statisch-Repetitive der ersten Rezeption, die Rapporte wurden zu figürlichen Szenen, in denen Tiere zwischen pflanzlichen Gebilden agierten, menschliche Figuren hinzukamen, Architekturen das Bild ergänzten und vielerlei weitere Details die Muster vervollständigten. Das Bemühen um eine möglichst naturnahe Darstellung zeigte sich insbesondere in der Zeichnung der Tiere. Bewegung erfüllte die Muster, bewirkt durch die Posen der Figuren, die Farbgestaltung der Gewebe und die asymmetrische Komposition der Rapporte. Höfisches Leben, die Jagd vor allem, Minne und eine Art Paraheraldik waren die bevorzugten Themen.
Warum nun wurden im späten 14. Jahrhundert die figurative Ikonographie der Seidengewebe, vor allem also die beliebten Tierdarstellungen zugunsten der Pflanzenornamente aufgegeben? In anderen Bereichen künstlerischen Schaffens blieben die höfischen Themen, Jagd und Tiere weiterhin aktuell; allein die Seidenweberei scherte aus und entwickelte ein völlig neues, über die Jahrhunderte erfolgreich bleibendes Formvokabular. War es das Aufkommen und die rasch zunehmende Beliebtheit der Samte? Durchaus denkbar, denn die Struktur der Samte ließ die Wiedergabe fein strukturierter Gefieder oder zur Ergreifung der Beute ausgefahrener Krallen von Falken bei der Beizjagd oder spitzer Raubtierzähne nur schwerlich zu. Wie dem auch sei, die literarisch-kunsthistorische Tierschau von den orientalischen zu den ersten europäischen Seidengeweben über die naturnahen Meisterzeichnungen der Frührenaissance bis zu den Jagdtapisserien der Hochrenaissance ist ein spannendes Lese- und Lernerlebnis.