Autor/en: Sandra Gianfreda, Martina Ciardelli
Verlag: Hirmer Verlag
Erschienen: München 2023
Seiten: 312
Buchart: Klappenbroschur
Preis: € 60,70
ISBN: 978-3-7774-4119-1
Kommentar: Michael Buddeberg
1851: Die erste Weltausstellung im monumentalen Crystal Palace in London ist der eigentliche Beginn für die Rezeption der islamischen Künste in Europa. Gewiss, Napoleons Ägyptenfeldzug hatte zwar ein halber Jahrhundert zuvor eine Ägyptenmode ausgelöst und schon im 18. Jahrhundert waren Zeiterscheinungen wie Chinoiserie oder die aus dem osmanischen Reich übernommene Tulpen-Hausse Anzeichen für eine zunehmende Beachtung der asiatischen Nachbarn. Doch erst die Industrialisierung in Europa, die Anfänge einer Globalisierung und neue Möglichkeiten der Mobilität, ja und eben diese Londoner Weltausstellung eröffneten den – geschätzt – sechs Millionen Besuchern dieser Schau einen sehr konkreten Blick in neue ästhetische Welten. Dieses Event markierte einen Wendepunkt in der Wertschätzung der islamischen Künste im Westen.
Die Rezeption islamischer Künste im Westen anhand von Fallbeispielen ist das Thema einer bemerkenswerten Ausstellung im Kunsthaus Zürich (bis 16.07.2023) und des dazu bei Hirmer erschienenen Kataloges. Zwei Dutzend dieser „Fallbeispiele“ – Essays über bekannte und weniger bekannte Protagonisten dieser Rezeption und Interviews mit zeitgenössischen Künstlern aus beiden Welten – erschließen das Thema und machen den Katalog zu einer unbedingt empfehlenswerten Lektüre. Dessen Botschaft ist klar: Die durch Aktionen politischer Extremisten zunehmenden Vorurteile gegen die islamische Welt vernebeln den Blick auf eine bedeutende Kultur und Kunst, die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts die Entwicklung der westlichen Moderne entscheidend mitgeprägt hat. Und dieser Prozess fortwirkender Rezeption darf kein Ende finden und wird es auch nicht, denn Kulturen sind niemals eine in sich geschlossene Einheit, sondern sind miteinander verflochten, sind hybride Gebilde mit durchlässigen Grenzen, die sich in einem stetigen Wandel befinden. Aufkommenden Tendenzen, islamische Einflüsse in gegenwärtiger Kunst, Kunstgewerbe und Architektur als verwerfliche kulturelle Aneignung, als neokoloniales Verhalten anzuprangern stehen mit der Ausstellung und dem Katalog einhundertsiebzig Jahre Rezeptionsgeschichte und deren vielfältige und oft begeisternde Beispiele und Objekte gegenüber.
Es waren Kunsthistoriker, Reisende, Sammler, Abenteurer, Händler und natürlich Kunstschaffende, Maler aber auch Keramiker und Glaskünstler, die vom Orient und den islamischen Künsten fasziniert waren. Der britische Architekt Owen Jones (1809-1874), der die Inneneinrichtung des Crystal Palace geschaffen hatte, war von den ägyptischen, türkischen und tunesischen Abteilungen fasziniert und ließ sich von deren Exponaten zu seinem grundlegenden Werk The Grammar of Ornament, erschienen 1856, inspirieren. Andere folgten und trugen durch ihre Publikationen zu einem vertieften Verständnis für die islamischen Künste bei. Der Maler Karl Gerstner (1930-2017) hat ein ganzes Jahrhundert später die strenge symmetrische Ornamentik der sogenannten Tastir-Mosaiken der Alhambra in Granada zur Grundlage seiner abstrakten Bilder gemacht. Weitere Essays sind einem Kreis von Künstlern und Händlern gewidmet, deren Faszination für den Orient im späten 19. Jahrhundert einmal mehr für eine positive Resonanz islamischer Kunst im Westen und nicht zuletzt für die Anfänge bedeutender Museumssammlungen sorgte. Der polnische Maler Stanislaw Chlebowski (1840-1884), Jean Léon Gérome (1824-1904) und der französische Sammler Albert Goupil (1840-1884) und sein legendärer orientalischer Salon in Paris sind hier für viele andere zu nennen. Und dann gab es natürlich die Sammler, die für einen sehr wesentlichen Beitrag für die zunehmende Wertschätzung islamischer Objekte sorgten. Henri Moser (1844-1923), Sohn eines Schaffhauser Uhrengroßhändlers, begann als vielseitiger Abenteurer in Zentralasien und schuf dort parallel die Grundlagen für seine Sammlung und seine spätere Ausstellungs- und Publikationstätigkeit. Waffen aber auch Textilien gehören zu den Schwerpunkten seiner Sammlung, die heute im Historischen Museum in Bern verwahrt wird. Weitere Sammler islamischer Künste sind Karl Ernst Osthaus (1874-1921) – die islamische Abteilung des Museums Folkwang in Essen und das Damaskuszimmer in Dresden gehen auf ihn zurück -, der französische Diplomat Jean Pozzi (1884-1967 und seine Sammlung persischer Miniaturen, darunter drei Blätter aus dem Großen Mongolischen Shanama, das Pozzi noch als vollständiges Werk gesehen haben soll, bevor es der Händler Georges Demotte plünderte, vor allem aber der durch das „Ölbusiness“ zeitweilig als reichster Mann der Welt gehandelte Armenier Calouste S. Gulbenkian (1869-1955). Seine aus über 6000 Werken bestehende Sammlung in dem nach ihm benannten Museum in Lissabon versteht sich als kulturübergreifend, hat ihre Schwerpunkte aber auf islamischer Keramik und persischen Teppichen. Dass sich auch das europäische Kunsthandwerk vom Orient beeinflussen ließ belegen Beiträge über den französischen Glaskünstler Philippe-Joseph Brocard (1831-1896), den ebenfalls französischen Keramiker Théodore Deck (1823-1891), den vielseitigen spanischen Designer Mariano Fortuny (1871-1949), dessen Roben und Tuniken aus den von ihm entworfenen und hergestellten Stoffen heute in Venedig zu besichtigen sind (Museo Fortuny), den italienischen Möbeldesigner Carlo Bugatti (1856-1940) und nicht zuletzt die bis heute existierende Glasmanufaktur J. & L. Lobmeyr in Wien, deren nach antikem syrischen Vorbild mit Emailfarben bemalte Kronleuchter für lukrative Aufträge aus Saudi-Arabien, Brunei und weiteren muslimischen Ländern sorgen.
Für den Einfluss des Orients auf die Malerei der klassischen Moderne steht vor allem Henri Matisse (1869-1954). Seine Reisen nach Nordafrika und die Einrichtung bzw. Dekoration seines Ateliers spielen eine Schlüsselrolle in seinen Arbeiten und bilden den wie selbstverständlich scheinenden Hintergrund vieler Bilder. Dem frühen Kandinsky auf dem Weg zur Abstraktion und Fotografien von Gabriele Münter aus Tunesien sind weitere Essays gewidmet, bevor die Tunisreise von Paul Klee (1879-1940), zusammen mit seinen Künstlerkollegen August Macke (1887-1914) und Louis Moilliet (1880-1962) zum Thema wird. Paul Klees berühmter Satz „Ich bin Maler“ fasst die Begegnung mit dem Licht und der Farbe, der Landschaft und der Architektur des Maghreb zusammen und steht am Anfang einer neuen Schaffensperiode.
Die Essays aus der Feder von Experten werden aufgelockert durch Interviews zeitgenössischer Künstler aus Ost und West, deren Werke – Installationen, Film, Fotografie – Bezug nehmen auf die jeweils andere Kultur. Anregung, nicht Aneignung, ist das die Ausstellung und den Katalog beherrschende Motiv.