The Royal Inca Tunic – A Biography of an Andean Masterpiece

Autor/en:         Andrew James Hamilton                                   

Verlag:            Princeton University Press.

Erschienen:     Princeton Oxford 2024

Seiten:             X, 329

Buchart:          Hardcover

Preis:               US-$ 44,00; GBP 55,00

ISBN:             978-0-691-25695-5

Kommentar:    Michael Buddeberg

Wie bringt man ein Textil zum Sprechen? „Geht nicht“ denkt der Laie, und wird von Andrew James Hamilton, dem Kurator für die Kunst Amerikas am Art Institut von Chicago eines Besseren belehrt.

Das Objekt, um das es hier geht ist eine Tunika aus dem Reich der Inka. Sie ist Bestandteil der Sammlung präkolumbischer Kulturen Amerikas des amerikanischen Diplomaten Robert Woods Bliss (1875-1962), die zusammen mit der bedeutenden Kollektion byzantinischer Kunst seiner Ehefrau Mildred Barnes Bliss (1879-1969) und dazu noch deren beider Anwesen in Washington DC als Schenkung an die Harvard University ging. Dumbarton Oaks, ein von einem großen Park umgebenes repräsentatives Landhaus im „Federal Style“ aus dem Jahr 1801, wurde zum Forschungszentrum, Bibliothek und Museum.

Die etwa Mitte des 20. Jahrhunderts von Robert Bliss erworbene Tunika ist als ein bedeutendes textiles Kunstwerk aus dem Reich der Inka durchaus erkannt und anerkannt, doch weiß – oder wusste – man so gut wie nichts über Alter, Herkunft, Material, Technik, Bedeutung und vor allem welches Schicksal dieses wohlerhaltene Kunstwerk in all den Jahrhunderten bis zu seinem Auftauchen in der Sammlung Bliss erfahren hat.

Die Suche nach Antworten auf die vielen Fragen hat den Autor über ein Jahrzehnt beschäftigt und das Ergebnis ist ein lebendig geschriebener, spannender Wissenschaftskrimi, der den Leser tief hineinführt in die Geschichte der präkolumbischen Kulturen, in deren herausragende Leistungen in textiler  Kunst, in das Entstehen, den Weg und den Höhepunkt des reichen und machtvollen Inkareiches als der letzten präkolumbischen Kultur, die grausame, intrigante und mörderische Eroberung und Vernichtung dieses Reiche durch den Spanier Francisco Pizarro und die sich anschließende koloniale Zeit als spanische Kolonie.

Die Tunica besteht aus Vorder- und Rückseite in gleicher Größe (91 x 76 cm), wobei jede Seite randlos mit 132 etwa quadratischen Feldern mit unterschiedlichen, sich wiederholenden geometrischen Mustern dekoriert ist. Es liegt nahe, in diesen Tocapus genannten Symbolen eine Art Bilderschrift zu vermuten, die aber trotz vieler Deutungsversuche nie entschlüsselt werden konnte. Mit der Überlegung, dass die Inca keine Schrift kannten und ihr Denken und Gestalten anderen Gesetzen folgten, sieht der Autor in diesem Weg eine Sackgasse. So bleiben erste Erkenntnisquellen eine knappe Handvoll früher kolonialer Manuskripte mit Illustrationen, die Tuniken abbilden, die ganz oder teilweise mit diesen Tocapus gemustert sind. Die dargestellten Szenen, insbesondere aber die Legenden zu den Bildern legen nahe, dass diese Tuniken der Oberschicht, dem Hof und in der durchgemusterten Form dem jeweiligen König der Inkas vorbehalten waren.

Gestützt wird diese Annahme durch die ganz außergewöhnliche Qualität der Tunica in Material, Farben und webtechnischer Feinheit, die selbst gemessen am hohen Standard präkolumbischer Textilkunst eine Ausnahme darstellt. Für den Autor ist dies Anlass, den Stellenwert textilen Gestaltens und die Vielfalt textiler Bindungssystem in den präkolumbischen Kulturen darzustellen. Bezeichnend ist hier, dass textiles Handwerk, zum Beispiel das Fertigen von Netzen für den Fischfang, zeitlich noch vor der Erfindung der Keramik rangierte und dass die Zahl und Variationsbreite textiler Gestaltungen diejenigen von Kulturen anderer Kontinente deutlich übertrifft. Doch zurück zur königlichen Tunica: Deren Kette besteht aus Baumwolle, der Schuss ist Wolle von Kameliden als da sind Guanaco, Llama, Alpaca und Vicunia und das Gewebe ist doppelsichtig, also Vorder- und Rückseite identisch. Aus der Struktur der Tunica und den webtechnischen Anforderungen der Tocapus erschließen sich weitere Besonderheiten, die dieses Textil zu einem einzigartigen Kunstwerk einer präkolumbischen Kultur machen.

Und hier stellt sich nun die Frage, wer und wann dieses königliche Meisterwerk gewebt hat. Unterschiede in der Webarbeit, leichte Tragespuren zum einen und die Überraschung dass die Tunica nicht einmal ganz fertiggestellt wurde zum anderen führen schließlich zu der allerdings ein wenig spekulativen aber im Zusammenhang mit all den anderen Fakten durchaus möglichen Erkenntnis, dass die Tunica am königlichen Hof von Cusco mit großem zeitlichen Aufwand von zwei hochqualifizierten aber unterschiedlich geschickten Weberinnen fast fertiggestellt war, als im Juli 1533 König Atahualpa von Pizarro gefangen genommen und trotz Zahlung eines unvorstellbaren Lösegeldes in Gold und Silber hingerichtet wurde. Mit seinem Tod brach das Inkareich zusammen und wurde eine Kolonie Spaniens.

Folgt man diesen Überlegungen ist durchaus denkbar, dass die für König Atahualpa bestimmte Tunika auch in kolonialer Zeit noch getragen wurde, wohl eher von einem spanischen Granden als von einem Nachkommen des gemordeten Königs, und dass sie vielleicht sogar die koloniale Mode von Tokapus-dekorierten Tunikas auslöste, wie sie in amerikanischen Museen verwahrt werden. Die Königstunika der Inka hat somit sprechen gelernt und einige der in ihrer Struktur versteckten Geheimnisse preisgegeben, wenn auch ungeklärt bleibt, ob die Tokapus und deren Anordnung eine Bedeutung haben und welche? Unsicher bleibt auch, ob Andrew James Hamilton alles richtig verstanden hat, aber das ist ja bei der Beschäftigung mit Fremdsprachen eine gar nicht so seltene Fehlerquelle.