Autor/en: Isabel Hilton
Verlag: C.H.Beck Verlag
Erschienen: München 2002
Seiten: 413
Ausgabe: gebunden mit Schutzumschlag
Preis: EUR 29.80
ISBN: 3-406-48617-7
Kommentar: Michael Buddeberg
Besprechung:
Im Januar 1989, im Alter von 51 Jahren, starb Chökyi Gyaltsen, der 10. Panchen Lama, in seinem Stammkloster Tashi Lhunpo unter myteriösen Umständen. Das geschah kurz nachdem er öffentlich für die Belange Tibets eingetreten war. War der Panchen Lama, der Jahrzehnte in Peking gelebt und den die chinesische Führung als treuen Vasallen des chinesischen Herrschaftsanspruchs über Tibet angesehen hatte, in Ungnade gefallen? Was auch immer Ursache für den plötzlichen Tod gewesen sein mag, er war wohl unmittelbarer Anlaß für das bizarrste Kapitel in der Geschichte des Kommunismus. 1990 gab das Politbüro der kommunistischen Partei Chinas Richtlinien für die Vorgehensweise der Partei bei der Suche, Auswahl und Anerkennung von Reinkarnationen hoher tibetischer Lamas heraus, Richtlinien, die in den Folgejahren mehrfach revidiert und verfeinert wurden. Was bewog die Mitglieder des chinesischen Politbüros, die ja nach eigener Aussage Marxisten, Materialisten und Atheisten waren, einen Auswahlprozeß, der seine Wurzeln in mittelalterlichen religiösen Glaubenssätzen hat, mit Hilfe bürokratischer Vorschriften zu regeln? So mystisch der Gedanke der Reinkarnation auch ist, so ist das Verfahren, durch das bedeutende Reinkarnationen identifiziert wurden, in Tibet über Jahrhunderte ein fundamentaler Bestandteil des religiösen und des politischen Lebens gewesen. In der konkreten politischen Situation im Tibet des späten 20. Jahrhunderts hat diese mystische Prozedur das Potential erlangt, das gesamte politische System zu destabilisieren. Thema des gründlich recherchierten und glänzend geschriebenen Buches ist denn auch nicht allein die Suche nach dem Kind, das einmal der 11. Panchen Lama werden sollte, sondern die Geschichte der Institution des Panchen Lama, die Geschichte des Verhältnisses zwischen Panchen Lama und Dalai Lama und die Geschichte der wechselnden Rolle Chinas in diesem religiösen Politik-Thriller, der schließlich zur Tragödie wurde. Das System der Wiedergeburt als Garant religiös-politischer Kontinuität wurde erstmals im 13. Jahrhundert im Kagyüpa Orden installiert. Unter dem von Tsongkhapa mehr als 100 Jahre später gegründeten Gelugpa Orden gewann das System für das religiöse und politische Lebens Tibets zentrale Bedeutung. Der mongolische Fürst Altan Khan verlieh dem fähigen Gelugpa-Führer Sonam Gyatso um 1580 den Titel Dalai Lama und begründete damit diese für Tibet so bedeutende Reinkarnationslinie. Nüchtern gesehen ist es natürlich keine schlechte Methode, nach einem begabten Kind zu suchen, um es dann für seine Aufgabe als späterer Herscher auszubilden. Der Prozeß wurde jedoch rasch zum Gegenstand politischen Drucks und politischer Entscheidungen. Vor allem die Zeit seit dem späten 19. Jahrhundert, als Tibet und damit auch seine religiösen und politischen Führer, der Panchen Lama und der Dalai Lama, zum Gegenstand der internationalen Machtpolitik in Zentralasien wurden, ist Zeugnis für diese Entwicklung. Das 1959 als feudalistischer Aberglaube verhängte Verbot der Suche nach wiedergeborenen Lamas, die 30 Jahre später vom Politbüro erlassenen Richtlinien, die chinesische Proklamation eines 11. Panchen Lama und die Entführung und Verschleppung des vom Dalai Lama anerkannten sechsjährigen Jungen im Jahre 1995 sind die vorerst letzten Kapitel dieser Geschichte. (- mb -)