Seeing Lhasa – British Depictions of the Tibetan Capital 1936 – 1947

Autor/en: Clare Harris, Tsering Shakya
Verlag: Serindia Publications
Erschienen: Chicago 2003
Seiten: 168
Ausgabe: Illustrierte Broschur
Preis: 39.95 US-$
ISBN: 1-932476-04-0
Kommentar: Michael Buddeberg, April 2004

Besprechung:
Tibet gilt heute als ein Teil von China. Ob, wann, wie lange und in welcher Art Tibet schon früher zu China gehört hat ist eine historisch und politisch kontrovers diskutierte Streitfrage, die viele Antworten kennt. Trotz der geographischen, ethnischen und sprachlichen Unterschiede hat es zwischen diesen benachbarten Ländern zwangsläufig seit jeher politische, religiöse, militärische und kulturelle Beziehungen gegeben. Daß Tibet und England auch einmal Nachbarn waren wird darüber leicht vergessen ebenso wie die Tatsache, daß die Geschichte der tibetisch-britischen Beziehungen fast zwei Jahrhunderte währte, jedenfalls so lange wie Britisch-Indien und Tibet unmittelbar aneinander grenzten. Warren Hastings, seinerzeit britischer Gouverneur von Bengalen, versuchte bereits 1774 erste Handelsbeziehungen mit Tibet zu knüpfen und eröffnete damit eine diplomatische Annäherung, die erst in der Mitte des 20. Jahrhunderts ein jähes Ende fand. Diese tibetisch-britischen Beziehungen lassen sich in drei Phasen unterteilen: Die erste von 1774 bis 1903 war davon geprägt, daß Tibet den Bemühungen Englands, in Tibet Fuß zu fassen, nachhaltig und erfolgreich Widerstand leistete. Es war die Phase, während der Tibet jeglichen westlichen Einfluß auszuschließen versuchte. Frühe Forschungsreisende wie Sven Hedin oder Wilhelm Filchner, die vergeblich Lhasa zu erreichen suchten, haben das am eigenen Lei8be erlebt. Die zweite Phase von 1904 bis 1936 begann mit der militärischen Intervention Englands in Tibet durch Francis Younghusband und war trotz dieses negativen Auftakts eine Zeit, in der sich allmählich Vertrauen und gegenseitiges Verständnis aufbauten. Der dritten Phase von 1936 bis 1947, einer Zeit enger persönlicher und gesellschaftlicher Beziehungen zwischen britischen Auslandsbeamten und der herrschenden tibetischen Gesellschaft in der Hauptstadt Lhasa ist nun eine Fotoausstellung im Pitt Rivers Museum in Oxford (bis November 2004) und das dazu erschienene Katalogbuch gewidmet. Der sogenannte „Mythos Tibet“, die Mär von einem geheimnisvollen und verschlossenen Land, verdrängt oft die Tatsache, daß Lhasa in der 30er Jahren des 20. Jahrhunderts trotz der offiziell immer noch praktizierten Isolationspolitik gegenüber dem Westen ein recht kosmopolitischer Platz war. Es gab in der tibetischen Hauptstadt nicht nur permanente Residenzen zahlreicher asiatiascher Staaten, sondern Besucher aus allen Ecken des Globus, aus Deutschland, Frankreich, Italien, USA, Skandinavien, Japan, Russland und natürlich aus England. Und mehr noch, von 1936 bis 1947 unterhielt England eine ständig mit mehreren britischen Beamten besetzte Mission in Lhasa. Man würde diese in einem weitläufigen adeligen Landhaus, dem „Dekyi Lingka“ untergebrachte Mission heute wohl als Konsulat, wenn nicht gar als Botschaft bezeichnen. In dieser Zeit entwickelten sich enge gesellschaftliche und freundschaftliche Beziehungen zwischen den britischen Geschäftsträgern samt Personal und der politischen und gesellschaftlichen Elite Lhasas. Fotografien von gemeinsamen Festen und Picknicks, vom Fußballspielen, Portraits tibetischer Regierungsbeamter und ihrer Familien belegen dieses enge Verhältnis. Die britische Botschaft in Lhasa mit einem regen gesellschaftlichen Leben und regelmäßigen Vorführungen von Filmen aus dem Westen war für das Anschluß an die Neuzeit suchende Tibet ein wichtiges Fenster zur Welt. Und für England war Tibet damals kein romantischer Traum, kein Shangri La, sondern ein ganz konkretes Ziel kolonialer Politik – und Lhasas herrschende Klasse war ganz und gar mit dabei. Von den in dieser Zeit entstandenen tausenden von Fotos wird eine repräsentative und eindrucksvolle Auswahl gezeigt, wobei die technisch perfekten Aufnahmen von Frederick Spencer Chapman, dem Chronisten der Mission von Sir Basil Gould, Bilder von Lhasa, vom Potala-Palast und vom Leben in der tibetischen Hauptstadt, Straßenszenen, Handwerker und Bilder aus den Tempeln und Klöstern, besonders hervorzuheben sind. Ergänzt werden diese historischen Fotos durch ausgezeichnete Aquarell-Portraits prominenter Tibeter, die der indische Künstler Kanwal Krishna 1040 anläßlich den Inthronisation des 14. Dalei Lama gemalt hat. Sieben Jahre später, 1947, mit der Entlassung Indiens in die Selbständigkeit und dem Rückzug der Briten vom Subkontinent endete auch die Nachbarschaft zwischen England und Tibet. Hugh Richardson war 1950 der letzte Brite, der Tibet verließ. Etwa zur gleichen Zeit begann China damit, Tibet mit zunehmender militärischer Gewalt vom „westlichen Imperialismus“ zu brfreien. Seeing Lhasa ist ein eindrucksvoller fotografischer und schriftlicher Bericht über das letzte Jahrzehnt des alten Tibet und über die gänzlich unkomplizierte und von gegenseitiger Achtung und Rücksicht geprägte Annäherung vollkommen verschiedener Welten.