Autor/en: Franco Ricca, Erberto Lo Bue
Verlag: Serindia Publications
Erschienen: London 1993
Seiten: 320
Ausgabe: Leinen mit Schutzumschlag
Preis: 60.– englische Pfund
Kommentar: Michael Buddeberg, April 1997
Besprechung:
Die große Stupa von Gyantse, 160 km südwestlich von Lhasa, gilt vielen als das herrlichste Bauwerk von Tibet. Guiseppe Tucci, der berühmte italienische Tibetologe und Reisende, dem auch eine erste Beschreibung und Studie von Gyantse zu verdanken ist, bezeichnet dieses Gesamtkunstwerk von Architektur, Skulptur und Malerei als bedeutendstes Denkmal tibetischer Kunst. Es ist ein Wunder, daß dieses Bauwerk aus leicht vergänglichen Materialien wie Lehm und Holz nicht nur mehr als fünf Jahrhunderte sondern auch die Zerstörungen der chinesischen Kulturrevolution weitgehend unbeschadet überstanden hat. Seit dem 13.Jahrhundert gewannen die Fürsten von Gyantse Macht und Ansehen und errichteten in Zentraltibet ein kleines feudales Königreich. Sein bedeutendster Sproß, Fürst Rabten Künzang, 1389 im Jahr der Erdschlange geboren, entwickelte sich zu einem großen Förderer von Architektur, Kunst und Religion. In seiner Regierungszeit wurden die meisten der Sakralbauten im berühmten Klosterbezirk Palkhor Chöde von Gyantse errichtet, darunter der ebenfalls erhaltene Tsuglakhang. Der Bau der großen Stupa, 1427 begonnen, markiert den Höhepunkt wirtschaftlicher und politischer Macht der Dynastie von Gyantse und ist zugleich Zeugnis der Durchdringung allen Lebens und Handelns durch den Glauben, der Tibet seit Jahrhunderten prägt. Lange vor dem Beginn der Herrschaft der Dalai Lamas über Tibet wurde hier ein einzigartiges Denkmal des Vajrayana-Buddhismus, des diamantenen Weges errichtet. 50 Jahre nach Guiseppe Tucci waren es wieder zwei italienische Wissenschaftler, die die „Stupa der hunderttausend Buddhas“ – irgendjemand fand heraus, daß es genau 27529 sind – vermaßen, fotografierten und nun in einer großartigen Monografie vorstellen. Neben Aufstieg und Niedergang des Königreichs Gyantse und einer genauen Beschreibung der komplizierten Architektur bilden die Symbolik der Stupa von Gyantse und die Ikonographie von Skulpturen und Malerei den Schwerpunkt dieses Buches. Wie alle Stupas repräsentiert die Stupa von Gyantse das Dharmakaya, das Gebäude der Lehre, das Wesen Buddhas. So wie der Pilger das Gebäude umrundet und Stockwerk für Stockwerk höher gelangt, erreicht er stufenweise immer subtilere und geheimere Formen der Erleuchtung. Die Stupa von Gyantse verfolgt damit den gleichen Zweck wie das 700 Jahre ältere Borobodur. Aber trotz der gleichen Symbolik und der verblüffenden Identität der Grundrisse dieser beiden Stupas unterscheiden sie sich grundlegend in ihrem buddhistischen Gehalt. Zählt Borobodur noch zu den massiven Stupas verbergen sich hinter der „Stupa mit den vielen Türen“ 75 Tempel und Schreine. Ist Borobodur Ausdruck des Mahayana-Buddhismus offenbart Gyantse das diamantene Fahrzeug, den Vajrayana-Buddhismus, der vorbuddhistische Naturreligionen ebenso integrierte wie esoterische Geheimlehren und tantrische Rituale und der ein unvergleichlich reichhaltiges Pantheon von Göttern und Göttinen, Dämonen und Dämoninnen, Heiligen und weniger Heiligen schuf, für den Gyanste das vollständigste Bestandsverzeichnis ist, das existiert. Franco Ricca wählt die wichtigsten Figuren aus diesem Pantheon aus und erklärt minutiös und durch Farbtafeln unterstützt Details und Bedeutung der Ikonographie. Die wichtigsten Buddhas und Bodhisattvas, Vairocana, Ratnasambhava, Amoghasiddhi, Avalokitesvara und Manjusri, zornige Gottheiten wie Yamantaka oder Vajrapani ziehen ebenso an uns vorüber wie weibliche Gottheiten, die grüne und die weiße Tara und schließlich Cakrasamvara und Kalacakra, jeweils im yab-yum, in der körperlichen Vereinigung mit ihren Gefährtinnen, tibetisches Symbol für Hingabe und Erfüllung, für Weisheit und Mitgefühl, Manifestation der höchsten spirituellen Essenz des Buddha.