Autor/en: Gerald Schmitz
Verlag: Walter de Gruyter Verlag
Erschienen: Berlin 1998
Seiten: 362
Ausgabe: Oktav-Leinenband
Preis: DM 168
ISBN: 3-11-016109-5
Kommentar: Michael Buddeberg, November 1998
Besprechung:
Die westliche Literatur über den politischen Status Tibets ist nur selten von Objektivität und Neutralität geprägt. Nichts anderes gilt für offizielles Schrifttum aus Peking, wie es beispielsweise als Informationsmaterial in Touristenhotels in Lhasa, Gyantse und Shigatse ausliegt. Entkleidet man diese chinesischen Broschüren von der Befreiungstheorie – danach wurde Tibet 1950 vor allem vom westlichen Imperialismus befreit, den aber damals gerade 5 harmlose Europäer in Tibet repräsentierten – bleibt der historische begründete Anspruch, wonach Tibet seit dem 13. Jahrhundert ohne Unterbrechung ein Vasall unter chinesischer Souveränität gewesen sei. In seiner als völkerrechtliche Dissertation vorgelegten Arbeit versucht Gerald Schmitz eine strikt neutrale Position zu wahren und das macht diese juristische Untersuchung auch für den Laien so wertvoll. Hat nun China 1950 mit dem Einmarsch in Tibet lediglich chinesisches Territorium wiedereingegliedert oder gilt Tibet völkerrechtlich als annektierter besetzter Staat? Schmitz entlarvt zunächst das Dogma jahrhundertelanger Kontinuität in den tibetisch-chinesischen Beziehungen als bloßen Mythos. Zwar gibt es eine erste enge politische und religiöse Anbindung Tibets an das unter der Fremdherrschaft der mongolischen Yuan-Dynastie mächtig gewordene China, die aber schon unter den Ming-Kaisem zur bloßen Handelsbeziehung abbröckelte. Und auch unter der nachfolgenden Qing-Dynastie (1644 – 1911) wechseln Perioden chinesischer Interventionen mit Zeiten faktischer tibetischer Unabhängigkeit miteinander ab. Mit historischen Fakten ist damit letztlich weder der eine noch der andere Standpunkt begründbar ebensowenig wie das daraus abgeleitete, jeweils durchaus kontroverse Verständnis der komplexen Beziehung. Während China machtpolitisch auf das Vasallenverhältnis pocht war das traditionelle Band zwischen den beiden Staaten aus tibetischer Sicht immer eine Priester-Patron-Beziehung, also ein eher spirituelles Verhältnis zwischen dem Dalai Lama und dem jeweiligen chinesischen Herrscher. Der Lama genoß als Person religiöser Verehrung den Schutz seines Patrons und sorgte im Gegenzug um dessen spirituelles Wohlergehen. Auch die Tributpflicht Tibets, immerhin dokumentarisch belegt, ist nur äußeres Merkmal und läßt nicht einmal Rückschlüsse auf die tatsächlichen Machtverhältnisse zu, denn das chinesische Tributsystem war weniger politisch motiviert sondern in hohem Maße symbolisch geprägt. So bestanden beispielsweise auch Tributpflichten europäischer Staaten als Vorbedingung für den Handel mit China, ohne daß dies je völkerrechtliche Implikationen gehabt hätte. Im Ergebnis gibt die historische Entwicklung für die Anwendung des modernen internationalen Völkerrechts nichts her und man fragt sich mit Recht ob das im Westen geprägte Völkerrecht auf altes ostasiatisches Staatsdenken überhaupt anwendbar ist. So gewinnt schließlich die Entwicklung im 20. Jahrhundert ausschlaggebende Bedeutung, ein auch auf europäische Verhältnisse übertragbares Ergebnis denn anderenfalls wäre auch Europa voll von alten Asprüchen, die aus mittelalterlichen Lebensansprüchen mancherlei Art abgeleitet werden könnten. In diesem Jahrhundert aber war Tibet von 1913 bis 1950 ein von China in jeder Hinsicht vollkommen unabhängiger Staat. Die klassischen Staatselemente, Staatsgebiet, Staatsvolk sowie eine autonome Staatsregierung waren in jenem Zeitintervall fraglos gegeben. Die damit gewonnene Eigenstaatlichkeit Tibets ist durch die faktische chinesische Herrschaft über Tibet zwar inzwischen – in völkerrechtlicher Sicht – wieder erloschen jedoch besteht das in dieser Unabhängigkeitsphase gewonnene Selbstbestimmungsrecht als das Recht auf die Wiederherstellung der staatlichen Unabhängigkeit fort. Ist das nun – von der Fülle an wissenswerten Fakten einmal abgesehen – nur graue Theorie? Im Moment ja, doch wie wir es bei der Auflösung der Sowjetunion gesehen hat, kann auch ein scheinbar mächtiges Riesenreich plötzlich zusammenbrechen, wenn das Herrschaftssystem morsch geworden ist. Der chinesische Kommunismus scheint zwar noch nicht reif für seinen Untergang aber Anzeichen für seinen Niedergang scheinen sich zu mehren. Eine Studie über die völkerrechtliche Situation Tibets wäre schließlich nicht vollständig ohne die Menschenrechtsproblematik. Schmitz untersucht sie anhand umfangreichen Quellenmaterials im Detail und kommt zu dem zunächst erstaunlichen Ergebnis, daß Menschenrechtsverletzungen in Tibet ein systemimmanentes Problem des chinesischen Justizwesens sind, von denen die gesamte Staatsbevölkerung gleichermaßen betroffen ist, womit eine aus dem Selbstbestimmungsrecht abzuleitende Notwehrlage Tibets oder der Tibeter zunächst abzulehnen ist. Mit einer Ausnahme: Die fortdauernde Verletzung der Rechts der Tibeter auf Religionsfreiheit ist für den Autor der gravierendste Eingriff Chinas in die Menschenrechte dieses Volkes und ein juristisch folgenreicher noch dazu. Durch die jahrhundertealte Theokratie Tibets, deren Strukturen sich so tief in Kultur und Bewußtsein der Bevölkerung eingegraben haben, daß Religion und Nationalität untrennbar miteinander verbunden sind, durch dieses Junktim von Religion und Gruppenidentität, nehmen die Tibeter sowohl als Individuen wie als Gesamtheit eine Sonderstellung gegenüber der mehrheitlichen Bevölkerung in der Volksrepublik China ein, in der sie durch die repressive Religionspolitik Chinas existentiell betroffen sind. Die Voraussetzungen einer Notwehrlage scheinen erfüllt. Auch diese Feststellung, deren Voraussetzungen sich mit den Erfahrungen des Rezensenten decken, hilft den Tibetern im Moment wenig da sie von ihren Völkerrechten keinen Gebrauch machen können. Gleichwohl ist die Arbeit von Schmitz äußerst verdienstvoll und lesenswert, weil sie mit wissenschaftlicher Klarheit nachweist, wie anfechtbar die historischen und juristischen Ansprüche Chinas auf Tibet sind und welch starke völkerrechtliche Argumente die tibetische Seite anführen kann, wenn sie nicht müde wird, auf ihrem Selbstbestimmungsrecht zu bestehen. (- mb -)