Ancient Sichuan – Treasures from a Lost Civilisation

Autor/en: Robert Bagley (Hrsg)
Verlag: Seattle Art Museum and Princeton University Press
Erschienen: Seattle, Princeton Woodstock 2002
Seiten: 360
Ausgabe: Leinen mit Schutzumschlag
Preis: 40,– engl. Pfund
ISBN: 0-691-08851-9
Kommentar: Michael Buddeberg

Besprechung:
Bis zum Sommer 1986 war die Welt der chinesischen Zivilisation und damit die ganze Kunst- und Kulturgeschichte des fernen Ostens in bester Ordnung. Das Kernland chinesischer Zivilisation war die zentrale chinesische Region um den Mittellauf des Gelben Flusses. Von hier aus entwickelte sich in der frühen Bronzezeit eine Hochkultur, die sich auf die benachbarten Regionen ausbreitete. Das antike China war damit eine einheitliche Welt mit einem klaren Zentrum und einer weitgehend homogenen Kultur. Dieses Modell geriet in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ins Wanken, als archäologische Entdeckungen an der Peripherie des chinesischen Kernlandes gemacht wurden, etwa im Tal des Jangtse, im Süden das Landes. Einer dieser Grabungsplätze war das Dorf Sanxingdui, noch viel weiter südlich, etwa 50 Kilometer nördlich von Chengdu, der Hauptstadt der heutigen Provinz Szechuan. Schon 1929 gab es dort einen bedeutenden Jade-Fund und fortgesetzte Grabungen ließen auf eine wichtige, frühe Siedlung schließen. Die ganz große, sensationelle Entdeckung machten dann aber in Sanxingdui nicht Archäologen sondern einfache Ziegeleiarbeiter. Zwei große Gruben mit offensichtlich rituell bestatteten Artefakten, Jade, Gegenstände aus Ton, vor allem aber Gefäße und Skulpturen aus Bronze stellten jäh das bis dato gültige Modell der Entstehung der chinesischen Zivilisation auf den Kopf. Als sich in Chinas Mitte gerade eine Schrift entwickelte, war in der entlegenen, wilden Grenzregion im Südwesten des chinesischen Kernlandes eine hochstehende und bis zu ihrer Entdeckung vollkommen unbekannte Zivilisation entstanden, eine Zivilisation, deren ungewöhnliche und spektakuläre Skulpturen selbst die berühmte Tonarmee des Kaisers Qin Shi Huang weit in den Schatten stellen. Geheimnisvolle Masken, vollplastische Köpfe, eine lebensgroße Bronzefigur, allesamt mit einer markanten Physiognomie, scharf geschnittenen, kantigen Zügen und übergroßen, hypnotisch wirkenden Augen, manche ganz menschlich, andere tierhaft oder dämonisch oder schlicht übernatürlich, sind so radikal anders als alles sonst aus dem antiken China Bekannte, dass man getrost von der ungewöhnlichsten und spektakulärsten Entdeckung sprechen kann, die je in China, wenn nicht in der gesamten antiken Welt gemacht wurde. Etwa im Jahre 1200 vor unserer Zeitrechung wurden im Abstand von wenigen Jahrzehnten hunderte von Objekten aus Bronze, Gold, Stein, Jade und Bernstein, Muscheln und Stoßzähne von Elefanten, das Meiste davon zuvor durch Feuer und Gewalt mutwillig zerstört in zwei Gruben sorgfältig zeremoniell begraben. Der Grund für dieses Ritual ist ebenso unbekannt wie die Funktion der meisten Objekte. Es gibt keine vergleichbaren Funde, keine Inschriften, nichts, was ein Licht auf Zusammenhänge mit bekannten Kulturen werfen könnte. Weitere Grabungen seit 1986 haben ergeben, dass Sanxingdui vor mehr als drei Jahrtausenden eine große Stadt gewesen ist, mit fast vier Quadratkilometern damals vielleicht die größte Stadt Ostasiens. Wie entstand diese Stadt und diese geheimnisvolle Kultur? Und wie ging sie wieder unter? Das großartige Katalogbuch (Ausstellungen in USA und Kanada in 2001/02) zeigt und beschreibt nicht nur die wichtigsten Objekte aus den beiden Opfergruben, sondern unternimmt den Versuch, den Einfluss der Funde von Sanxingdui auf das Verständnis der chinesischen Geschichte auszuloten. Dass hier vor allem Fragen und Hypothesen aufgestellt und so gut wie keine Antworten gegeben werden können, liegt auf der Hand. Ein revolutionärer Wechsel in der Wahrnehmung der antiken chinesischen Zivilisation durch die Funde von Sanxingdui ist wahrscheinlich aber derzeit nur spekulativ. Mehr als ein halbes Jahrtausend liegt zwischen der Zeit der Kultur von Sanxingdui und der Zeit der Streitenden Reiche, als nach dem bisherigen Stand von Archäologie und Forschung Szechuan zu einem Bestandteil des chinesischen Reiches wurde. Ausgrabungen und Entdeckungen aus dieser Zeit, vor allem aus der Zeit der Han-Dynastie, bilden den zweiten Teil des Buches, das damit ein umfassender Bericht zum Beitrag einer eng begrenzten Region zur Entwicklung Chinas ist. Es bleibt die Frage nach dem Gewicht und der Bedeutung dieses Beitrages, die ohne künftige archäologische Funde, die es ermöglichen, den heute nicht sichtbaren Zusammenhang herzustellen, nicht zu beantworten ist. Entdeckungen wie in Sanxingdui machen uns bewusst, dass unser Wissen von der Vergangenheit begrenzt ist durch das, was noch nicht gefunden und entdeckt wurde und über das nicht berichtet ist. Die Frühgeschichte Chinas ist wie ein Puzzle, bei dem nicht bekannt ist, aus wie viel Teilen es besteht. Sicher ist nur, dass die frühe Bronzezeit weit komplizierter und aufregender gewesen ist, als man sich das bisher vorgestellt hat. (- mb -)