Autor/en: John E. Vollmer, Jacqueline Simcox
Verlag: The University of Alberta Press
Erschienen: Edmonton 2009
Seiten: XL 324
Ausgabe: Leinen mit Schutzumschlag
Preis: USD 60.–
ISBN: 978-0-88864-486-2
Kommentar: Michael Buddeberg, Oktober 2010
Besprechung:
Die Zweitverwertung von Textilien ist eine der wesentlichen Grundlagen der Geschichte der Textilkunst. Diese gewagte These bedarf der Erläuterung: Im europäischen Hoch- und Spätmittelalter war es in hohen und höchsten Kreisen der Macht und Gesellschaft üblich, die kostbaren aber aus der Mode gekommenen Kleidungsstücke und Haustextilien den Kirchen zu überlassen, die sich solche kostspieligen Stoffe, die aus fernen Ländern als Diplomatengeschenke oder teure Handelsware ins Land gekommen waren, niemals leisten konnten. Dort wurden aus diesen abgelegten, auch abgetragenen und oft nur fragmentarisch verwendbaren Resten mit Liebe und Geschick die schönsten Paramente gefertigt. Während die weltliche Macht wechselte, Reiche und Dynastien vergingen und Residenzen und Paläste verwahrlosten oder in Schutt und Asche versanken, wurden die Altardecken, Reliqienhüllen, Dalmatiken und Kasel in den Schatzkammern von Domen, Münstern, Kathedralen und Klosterkirchen sorgsam verwahrt und mit Bedacht über Jahrhunderte genutzt. So haben sich beispielsweise die frühesten europäischen Seidengewebe aus Lucca, Venedig, Florenz und Genua, aber auch Gewebe aus Byzanz und dem Vorderen Orient fast ausschließlich in Kirchenschätzen erhalten. Eine solche Zweit- oder auch Drittverwertung kostbarer Stoffe wird es wohl in fast allen Kulturkreisen gegeben haben. Ein herausragendes Beispiel ist das alte Tibet. Chinesische Seiden waren in Tibets Klöstern, Tempeln und Adelsresidenzen seit jeher begehrte und vielfältig genutzte Luxuswaren. Altardecken, Wand- und Deckenverkleidungen, Umhänge kostbarer Statuen, Fahnen und Banner wurden aus aufwendig gewebten oder in Kesi-Technik gearbeiteten chinesischen Seiden gefertigt. Und natürlich auch die Kostüme und Roben hoher Beamter und Äbte. Im Gegensatz zum mächtigen Nachbarn mit seinen bis ins Detail und bis in die untersten Ränge der Gesellschaft festgelegten Kleiderordnungen gab es keine Vorschriften und die tibetischen Couturiers konnten ihrer Phantasie und ihrer ästhetischen Kreativität freien Lauf lassen. Sie nahmen großflächige Wandbehänge mit buddhistischen Symbolen und Drachen, Dekorationstextilien mit fliegenden Kranichen und Qilins zwischen bunten Wolken und Throndecken mit geometrischen und floralen Mustern aber auch als Geschenk nach Tibet gelangte, ablegte kaiserliche Roben vom Hof in Peking und komponierten aus ihnen die wundervollsten Gewänder (tibet. Chuba) Die schönsten Beispiele dieser Zweitverwertung chinesischer Seiden, alle bisher unveröffentlicht, können nun in einem prachtvollen Buch der dem Museum der Universität von Alberta geschenkten Sammlung von Cécile und Sandy Mactaggert bewundert werden. Dieses halbe Dutzend tibetischer Phantasiekostüme ist allerdings nur ein kleiner Teil der Sammlung Mactaggert, die zu den bedeutendsten privaten Kollektionen chinesischer Malerei und Textilkunst gehört, und von der in dem Buch 72 der schönsten Objekte vorgestellt werden. Höfische Roben aus der Zeit der Qing-Dynastie, eine Sammlung von Rangabzeichen, die bis in die Mingzeit zurückreicht und ein Dutzend verschiedener Dekorationstextilien, allesamt von makelloser Erhaltung, werden von Meisterwerken chinesischer Malerei, darunter großartige narrative Bildrollen mit Szenen aus chinesischer Geschichte und chinesischem Alltagsleben begleitet. Dank der Kleidungsvorschriften und Rangabzeichen können die offiziellen Roben weitgehend exakt dem Kaiser selbst, seinen nächsten Angehörigen und schließlich zivilen oder militärischen Beamten verschiedener Rangstufen zugeschrieben werden. So sind es nur die informellen, von Frauen getragenen Roben, Umhänge oder Westen, bei denen sich Weber und Schneider größere Freiheit in Muster, Dekor und Zuschnitt erlauben durften und zauberhafte Kreationen schufen. Die einleitenden Texte der zu den allerersten Experten für chinesische Textilien zählenden Autoren, John Vollmer und Jacqueline Simcox, beschreiben die Rolle von Seide und der aus den Seidenstoffen hergestellten Produkte für die chinesische Gesellschaft und Hierarchie und erläutern anhand der Kollektion die sozialen, kulturellen und politischen Verhältnisse in den komplexen Dynastien der Ming (1368-1644) und Qing (1644-1911). Die Beschreibungen und Anmerkungen zu den einzelnen Objekten stellen diese nicht nur in den historischen und kulturellen Kontext, sondern ermöglichen mit den Hinweisen auf Vergleichsstücke und Literatur ein vertieftes Studium. Die sorgfältige Dokumentation der Erwerbungen durch die Sammler vermitteln schließlich eine Vorstellung von 50 Jahren engagierter, begeisterter und kenntnisreicher Sammeltätigkeit und der vielfältigen, internationalen Quellen, der namhaften Händler und Auktionatoren, deren es bedarf, um solche Schätze zusammenzutragen. Noch viel lesenswerter sind die persönlichen Erinnerungen von Cécile Mactaggert, ihr Bekenntnis zu einem halben Jahrhundert, in dem aus dem oberflächlichen Interesse einer Studentin der Kunstwissenschaft eine Leidenschaft wurde, wie aus bescheidenen Anfängen mit schmalem Geldbeutel Kenntnisse und Gespür erwuchsen und wie schließlich die Investition in die kanadische Erdölexploration den Aufbau einer Weltklassesammlung ermöglichte. Wir erfahren einige von den Geschichten, die jeder Sammler erzählen kann, etwa wie es gelang, das wohl schönste existierende taoistische Priestergewand in Kesi-Technik, eines der Glanzstücke der Sammlung, gerade noch davor zu retten, bevor es die Urenkelin einer einst in China tätigen Missionarin zu Sofakissen verarbeitete. Auch über die Aufregung, schreibt Cécile Mactraggert, die sie ergriff, als nach der Öffnung Tibets die erstaunlichsten und nie zuvor gesehenen Textilien den Markt erreichten. Betrachtet man die aus kreativer Zweitverwertung kaiserlicher Textilien in Tibet entstandenen Chubas, so kann man diese Aufregung gut verstehen.