Autor/en: Kurt Rainer
Verlag: Akademische Druck- und Verlagsanstalt
Erschienen: Graz 1999
Seiten: 192
Ausgabe: Hardcover mit Schutzumschlag
Preis: DM 98
ISBN: 3-210-01715-9
Kommentar: Michael Buddeberg, Juli 1999
Besprechung:
Oft ist die Wahl des richtigen Titels das halbe Buch, der halbe Erfolg und der entscheidende Einstieg in das Thema. „Tasnacht“ ist so ein Titel, der nicht besser gewählt sein könnte für ein Buch über das Kunsthandwerk der Berber im Süden des Hohen Atlas. Tasnacht war schon immer das Handelszentrum der Region, Handelszentrum für Tonwaren, Schmuck und Textilien, ein Ort, der die Gluthitze der Sahara schon ahnen läßt und der doch beherrscht wird vom oft schneebedeckten Vulkanmassiv des Djebel Sirua (3304 m). Tasnacht liegt im Zentrum der Vorsahara-Region Marokkos, die von knapp zwei Dutzend Berber-Stämmen bewohnt wird, die den Ait Ouaouzguite, den Glaua und den Znaga angehören. „Tasnacht“ ist weit mehr als ein Buch über Teppiche und Flachgewebe aus Südmarokko, denn in dem etwa zwei Drittel des Bandes ausmachenden Textteil gibt der Autor eine fundierte Einführung in Geschichte, Kultur und Brauchtum einer Region, in der sich durch ihre Abgeschiedenheit Tradition und Ursprünglichkeit bis zum Ende des zwanzigsten Jahrhunderts bewahren konnten. Die Berber sind die Ureinwohner Marokkos, deren Herkunft auch heute noch rätselhaft ist. Lange vor den Römern besiedelten sie Nordafrika und ihre Spuren verlieren sich zu den frühen Turkvölkern, den alten Libyern oder gar in das legändäre Reich der Königin von Saba. Die verschiedenen Berberstämme haben auch nie eine einheitliche Nation gebildet und noch heute führen sie teilweise ein Nomadenleben, bewohnen im Winter feste Dörfer und ziehen im Frühsommer auf die Hochweiden. Einfache, einstöckige Häuser aus Stampflehm, mehrstöckige, burgartige Lehmhäuser, die Kasbahs, und schließlich die massiven Agadirs, kollektive Getreidespeicher und Trutzburgen zugleich, prägen die eindrucksvolle und unverwechselbare Architektur der Dörfer ebenso, wie das stets vorhandene schlanke Minarett. Die Verzierung der Kasbahs, Ornamente im Tongeschirr, Form und Dekor des Silberschmucks und die Palette von Mustern und Symbolen im textilen Kunsthandwerk sind zwar eindeitig vom Islam beeinflußt, jedoch dominiert eine eher animistische vor-oder urreligiöse Symbolik, für die der Schutz vor den bösen Kräften, die Abwehr des Bedrohlichen, die wichtigste Funktion darstellt. Die in den Textilien aller Stämme immer wiederkehrenden Rauten-, Tier-, Augen- und Fruchtbarkeitsdarstellungen haben hier ihre Wurzel und beweisen eine uralte textile Tradition, für die sich gewebte Zeugen aus alter Zeit leider nicht erhalten haben. Die lockere Struktur der Teppiche und Flachgewebe, ihre daher vergleichsweise kurze Lebensdauer und die sehr späte Entdeckung durch westliche Sammler haben zur Folge, daß kaum alte Stücke vorhanden sind und eine Zuschreibung in das 19. Jahrhundert kaum je möglich ist. Darüber hinaus haben städtische Gewohnheiten und technische Errungenschaften auch in die Dörfer um den Djebel Sirua Einzug gehalten und machten funktionelle Textilien wie Provianttaschen, Futtersäcke, Gürtelbänder und Wickeltücher mehr und mehr entbehrlich. Der Mangel an altem Material aber auch die räumliche Nähe der verschiedenen Stämme, deren Dörfer oft nur wenige Kilometer voneinander entfernt liegen, erschweren den Versuch des Autors, Muster und Motive, Web- und Knüpftechniken, Abschlüsse und Kanten bestimmten Stämmen zuzuordnen. Hier wäre weniger sicher besser gewesen. Eine Feststellung aber ist gewiß richtig: Die Wollqualität der Stammestextilien ist umso besser, je höher der Stamm siedelt. Hier gebührt das höchste Prädikat wohl dem Stamm der Ait Khozema, dessen Dörfer Amassine und Taschukscht in knapp 2000 m Höhe zu den höchstgelegenen der Region gehören und deren Schafrasse Barka eine feine, langfaserige, seidig glänzende Wolle liefert. An dieser Stelle hätte das Projekt des Wiederentdeckers und Förderers des marokkanischen Teppichs, Wilfried Stanzer, nicht unerwähnt bleiben dürfen. Wilfried Stanzer hat gerade dort im hochgelegenen Amas-sine, begonnen, neue Teppiche aus dieser hochwertigen Wolle und unter Verwendung von Naturfarbstoffen zu knüpfen, um so den alten und sich verlierenden Traditionen eine Zukunft im 21. Jahrhundert zu geben. Auch das ist Teppichkunst der Berber Südmarokkos. Der Katalogteil zeigt in großem Format und guter Farb- und Druckqualität 50 Teppiche, Flachgewebe und Knüpfkelims – das ist die typische Mischtechnik der Berber – aus der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts. Ein Literaturverzeichnis und eine Farbtafel bilden den Abschluß eines Buches, das für die Bibliothek des Teppich- und des Marokko-Freundes eine Bereicherung ist.