Autor/en: Christoph Baumer
Verlag: Akademische Druck- und Verlagsanstalt
Erschienen: Graz 1999
Seiten: 200
Ausgabe: Leinen mit Schutzumschlag
Preis: DM 135.–
ISBN: 3-201-01723-X
Kommentar: Michael Buddeberg
Besprechung:
Auf jedem Paß Tibets und auf manchem Gipfel steht ein Lhatse, ein der Berggottheit geweihter Steinhaufen, den jeder Reisende mit einem kleinen Stein erhöht. Meistens flattern von einem im Lhatse steckenden Pfahl auch bunte Gebetsfahnen, wodurch die aufgedruckten Zauberformeln und Gebete durch den Wind zu den himmlischen Adressaten getragen werden. Jeder kennt dieses für Tibet typische Bild und kaum einer weiß, daß es sich hier um uralte Glaubensvorstellungen und Rituale der vorbuddhistischen Bön-Religion handelt, die sich im Volksglauben der Tibeter erhalten haben – wie auch Geisterfallen, Manimauern, Opferrituale, Teig- und Butterfiguren, Amulette und Gebetsmühlen. Das Leben der Bauern und Nomaden Tibets ist seit jeher von den unberechenbaren, Angst einflößenden Naturgewalten geprägt. So können im heißen Sommer ein paar Hagelstürme und Regengüsse die Gerstenernte einer Region vernichten, oder es mag geschehen, daß zehntausende von Yaks bei wochenlangen Schneefällen im Winter vor Kälte und Hunger umkommen. Die Vorstellung, Götter und Geister lenkten diese bedrohlichen Naturkräfte und ließen sich durch Opfer besänftigen und günstig stimmen, hat sich aus den unmittelbaren Erfahrungen der Tibeter mit ihrer rauhen Umwelt ergeben. Diese geheimnisvolle, übernatürliche Sphäre, die von unzähligen Gottheiten und Geistern belebt ist, ist die Welt der alten Bön-Religion und ist die Grundlage des Volksglaubens der Tibeter – bis heute. Wahrscheinlich hat diese Vernetzung der Tibeter mit der Allgegenwart des Göttlichen in der Natur dazu beigetragen, daß die systematische Zerstörung der Klöster und Tempelanlagen vor und während der Kulturrevolution die tibetische Religiosität nicht bezwingen konnte. Denn der gläubige Tibeter braucht keinen Tempel, um seinem Glauben Ausdruck zu verleihen.