Autor/en: Anna Jolly
Verlag: Abegg-Stiftung
Erschienen: Riggisberg 2004
Seiten: 432
Ausgabe: Leinen mit Schutzumschlag
Preis: EUR 280
ISBN: 3-905014-18-1
Kommentar: Michael Buddeberg, Juli 2002
Besprechung:
Im 19. Jahrhundert bezeichnete man mit Naturalismus eine bestimmte, sich am Vorbild der Natur orientierende Stilrichtung der französischen Malerei. Otto von Falke (Die Geschichte der Seidenweberei, Berlin 1913) gebrauchte den Begriff erstmals in Verbindung mit Textilien und bezeichnete mit ihm Gewebedekore mit Blumenmotiven aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Die heute in der Entwicklungsgeschichte der Seidenweberei etablierte Bedeutung des Begriffs Naturalismus prägte dann Peter Thornton in seinem 1960 erschienenen Aufsatz über den in Lyon tätigen Entwerfer und Unternehmer Jean Revel. Thornton erkannte in Revel eine zentrale Figur in der Entwicklung naturalistischer Seidendekors der Jahre um 1730. Seither wird „Naturalismus“ oder auch „Style Revel“ in zahlreichen Sammlungskatalogen und Fachpublikationen als Stilbezeichnung für Gewebe aus der Zeit von etwa 1730 bis 1750 verwendet. Er dient damit neben den Begriffen „Bizarre Seiden“ oder „Spitzenmuster“ der Ordnung der sonst kaum zu bewältigenden Vielfalt der Dekore. Naturalismus ist aber keineswegs als getreues Abbild der sichtbaren Natur, etwa vergleichbar einer botanischen Illustration zu verstehen. Besonders die Größenverhältnisse der scheinbar natürlichen Motive der Seidendekore sind häufig nicht realistisch. Riesige Pflanzen mit dünnen Stengeln und überproportional großen Blüten und Blättern stehen etwa neben winzigen Gebäuden und Landschaften, obwohl dann wieder einzelne Details der Darstellung möglichst genau wiedergegeben sind. Damit ist ein Aspekt angesprochen, der allen scheinbar naturnahen Darstellungen in der Kunst gemein ist, nämlich der künstlerische Umgang mit den aus der Natur entlehnten Formen, der diese von einer möglichst korrekten Beschreibung wie etwa in der botanischen Illustration trennt. So ist es kein Wunder, dass die in den Seidengeweben des Naturalismus dargestellten Pflanzen häufig botanisch nicht identifizierbar sind. Und doch sind die seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert erschienenen Ornamentstichwerke, Reiseberichte mit Darstellungen exotischer Pflanzen oder botanische Kompendien wie Maria Sybilla Merians „Neues Blumenbuch“ und ihr berühmtes „Metamorphosis Insectorum Surinamensium“ als Ausdruck eines neuen Interesses an der natürlichen Umwelt, einer Hinwendung zur Natur, einer Befreiung vom steifen Pomp der klassizistischen Silber- und goldbeladenen Dekorationsformen der Zeit unter Louis XIV, die unmittelbaren Vorbilder für den Wandel der Dekoration der Seidenstoffe. Naturalismus ist der dritte Band der stattlichen Bestandskataloge der Abegg-Stiftung und der zweite, der sich nach Bizarre Seiden (Besprechung in der Ausgabe Juli 2000) dem vielfältigen Thema der Seidengewebe des 18. Jahrhunderts widmet. Auch dieses Buch ist gegliedert in einen ausführlichen Textteil, der die Seidengewebe in ihrem zeit-, kunst- und textilgeschichtlichen Zusammenhang darstellt, einen ausführlichen Katalog der 211 in der Sammlung befindlichen Gewebe und einen wissenschaftlichen Anhang mit Gewebeanalysen, webanalytischen Tabellen, Registern, Bibliographie und englischer Übersetzung der Texte. Durch erstmals ausgewertete Entwurfszeichnungen, etwa aus dem Musée de la Mode et du Textile in Paris, der Bibliotheque Nationale, dem Musée des Tissus in Lyon und anderen, und durch die Einbeziehung von Gewebemustersammlungen, die zum Teil über den Kunsthandel in den reichen Bestand der Abegg-Stiftung gelangten, ist das Buch ein wichtiger, maßgebender und aktueller Beitrag zur Erforschung einer textilen Kunstgattung, die durchaus als ein Höhepunkt europäischer Textilkunst gelten kann. So war eine wesentliche Neuerung des Naturalismus die Darstellung dreidimensionaler Formen mit formgebenden Licht- und Schattenelementen. Der bereits erwähnte Jean Revel übertrug Prinzipien der Malerei auf den Webstuhl und ließ Motive durch graduelle Farbübergänge, von Hellrosa bis Rot oder Zartblau bis Dunkelblau räumlich erscheinen. Dies wurde erreicht, indem Schussfäden unterschiedlicher Helligkeit gestaffelt miteinander verzahnt wurden. Vorbild waren hier wohl die Darstellungen heimischer und exotischer Flora und Fauna aus den Tapisserien des frühen 18. Jahrhunderts, hergestellt in der königlichen Manufaktur von Paris. Die Übertragung dieser Gestaltungsprinzipien in den mechanischen Vorgang des Webens war ein Aufbruch in eine neue visuelle Dimension. Sie währte kurz. 20 Jahre, von etwa 1730 bis 1750 dauerte die Stilepoche des Naturalismus, die ihren Ausgang in Frankreich nahm und von anderen Ländern rasch rezipiert wurde. Der kurzen Dauer und den damals schon schnell wechselnden Moden ist es zuzuschreiben, dass der Bestand erhaltener Seiden gering ist. Allein der Zweitverwendung dieser kostbaren und damals schon sehr teuren Stoffe ist es zu danken, dass überhaupt eine nennenswerte Anzahl überlebt hat. Die oft kaum getragenen Gewänder wurden vielfach an Händler verkauft oder an Kirchen verschenkt. Ein berühmtes Beispiel einer dokumentarisch belegten Wiederverwendung eines Kleidungsstückes aus naturalistischer Seide ist die sogenannte Schlafrockkasel in der Innsbrucker Hofkapelle, die 1765 aus dem Schlafrock des in jenem Jahr verstorbenen Kaisers Franz I von Österreich auf Geheiss seiner Witwe Kaiserin Maria Theresia gefertigt wurde. Kurzum, Informationen in Hülle und Fülle, gekleidet in ein vorzüglich gestaltetes und reich illustriertes Fachbuch. Wie stets bei der Publikationen der Abegg-Stiftung: Textile Forschung auf höchstem Niveau.