Autor/en: Jürgen Wasim Frembgen
Verlag: Prestel Verlag
Erschienen: München 2010
Seiten: 256
Ausgabe: Hardcover
Preis: € 49.95 (Buchhandelsausgabe)
ISBN: 978-3-7913-5064-6
Kommentar: Michael Buddeberg, August 2010
Besprechung:
„I♥NY“ oder „ich bremse auch für Tiere“, wer kennt sie nicht, diese die Heckpartien mancher PKW zierenden persönlichen Statements ihrer Halter, die man als nachfolgender Fahrzeuglenker quasi zur Kenntnis zu nehmen gezwungen ist. Die Nutzung von Fahrzeugen als Projektionsfläche des eigenen Ich ist vielleicht nicht so alt wie das Rad, reicht aber gewiss Jahrhunderte zurück wie man an den Adelswappen antiker Kutschen unschwer feststellen kann. Der Weg von diesem Mittel des Selbstausdrucks zur Nutzung der Karosse als Malgrund für Kunst ist nicht mehr weit, und so haben namhafte Künstler von Alexander Calder bis Andy Warhol noble Fahrzeuge bemalt, die heute im BMW-Museum zu bewundern sind. Hohe Kunst, cleveres Marketing oder gar beides? – diese Frage mag jeder für sich entscheiden. In einem ganz anderen Teil der Welt ist die Verzierung von Fahrzeugen eine etablierte Form der Volkskunst. Pakistan ist ein Land, in dem aufwändig dekorierte Fahrzeuge zum Alltag gehören, und dies schließt alles ein, von Fahrrädern und Lastkarren bis zu großen Sattelschleppern. Vor allem Lastwagen und Busse, die das Verkehrgeschehen in diesem Land dominieren, sind regelmäßig über und über mit einer fantasievollen, bunten und individuellen Kombination von Malerei, Kalligraphie, Metallarbeiten und Applikationen aus allerlei Plastikklebebändern und reflektierenden Streifen dekoriert. Ins Museum hat es diese Kunst noch nicht gebracht, wohl aber in einen Museumskatalog. Die auf diesen Truck-Dekorationen stets vorhandenen Inschriften, ihre mehr oder weniger kalligraphische Gestaltung und der von bloßer Information über Besitzerstolz bis zu religiösen Epigraphien reichende Inhalt war es Jürgen Wasim Frembgen, dem Kurator der großen Münchner Kalligraphie-Ausstellung (vom 16. September bis zum 05. Dezember 2010) im Völkerkundemuseum wert, einen Beitrag über Lastwagen-Kalligraphie in den Katalog aufzunehmen. In erster Linie aber begleitet der Katalog natürlich die etwa 150 Exponate, mit denen das Museum nicht nur die „Königin der Künste“ zelebriert, sondern, zusammen mit weiteren Münchner Ausstellungen und Events an die legendäre Exposition von Meisterwerken muhammedanischer Kunst vor 100 Jahren erinnert. Jene Ausstellung mit ihren 3.500 Exponaten und dem wissenschaftlichen Katalog gilt als Beginn einer wissenschaftlich fundierten Auseinandersetzung Europas mit islamischer Kunst und ist damit ein idealer Bezugspunkt. Es war auch eine kluge Entscheidung, Kalligraphie als Gegenstand dieser Jubiläumsausstellung zu wählen, denn Kalligraphie als Kunst wird dem Motto „Changing Views“, unter dem der islamische Herbst in München steht, besonders gerecht. Islamische Schriftkunst war 1910 kaum bekannt und wurde nicht als Kunst wahrgenommen. Der Katalog führt vor Augen, wie sich das Bild gewandelt hat. Schrift wurde geradezu zu einem Symbol des Islam. Sie ist dort allgegenwärtig und es gibt kein Medium, das sie nicht dominierte. Selbstredend findet sich Schrift zunächst auf Pergament und Papier – in Ausstellung und Katalog mit Koranseiten, Alben, zahlreichen kalligraphischen Zierblättern, mit Urkunden aber auch durch Bucheinbände und Schreibzeug und besonders reizvolle kalligraphische Übungsblätter dokumentiert – aber Schrift ist auch Dekor auf früher Keramik aus Nishapur, auf Metallgefäßen und Elfenbeindosen, auf Glas, Keramik und Textilien, auf Waffen und Rüstungen, auf Fliesen, Grabsteinen, Amuletten und Münzen. Zwei der insgesamt zwölf Essays sind der Schriftkunst in der islamischen Architektur gewidmet. Mit Ziegeln gemauert, auf Wandfliesen kunstvoll gebrannt, in Stein gehauen und in Holz geschnitzt wurde das Wort des Koran zum tragenden Gerüst islamischer Sakralbauten. Auf diesem Weg der Schrift von bloßer Inschrift zum prägenden Erscheinungsbild der Architektur, wird besonders deutlich, dass das Wesen der Kalligraphie nicht in ihrer Lesbarkeit besteht. Durch Inversion, Rotation, Überschneidung und Durchdringung sowie durch Weglassen der diakritischen Zeichen erfährt Schrift, und das nicht nur in der Architektur, häufig eine so starke Verfremdung, dass der Text kaum noch entschlüsselbar ist. Ihr heiliger Charakter, die Verehrung des Göttlichen ist das Wesen der Kalligraphie, ausgedrückt durch Schönheit, Harmonie und Eleganz, nicht ihr profaner Nutzen. Diese Entwicklung und Bedeutung arabischer Kalligraphie von ihren ersten Anfängen, als etwa im 8. Jahrhundert die Nachfahren des Propheten damit begannen, den Koran niederzuschreiben, über die Entwicklung der verschiedenen Schreibstile oder Dukten, vom steifen Kufi-Duktus bis zu runden und flüssigen Schreibstilen und der Darstellung der unterschiedlichen Schulen ist Thema des zentralen Beitrags von Claus-Peter Haase. Weitere Beiträge, stets trefflich illustriert mit ausgestellten Beispielen aus dem Münchner Völkerkundemuseum und von zahlreichen weiteren Leihgebern, widmen sich kalligraphischen Darstellungen auf Grabsteinen oder auf Münzen, poetischer Kalligraphie auf Metallgefäßen und Segenswünschen auf silbernen Amuletten, die sich in erstaunlicher Qualität und Fülle im Bestand des Münchner Museums finden. Zu diesem Münchner Bestand gehört auch ein ungewöhnlicher anatolischer Inschriftenteppich mit hochreligiösen Texten. Die Autorin des diesem Teppich gewidmeten Beitrags geht seiner Herkunft nach und vermutet in ihm eine im 19. Jahrhundert geknüpfte Kopie eines im Wiener MAK befindlichen Original des 17. Jahrhunderts, wobei allerdings auch eine Arbeit des rumänischen Meisterfälschers Theodor Tuduc nicht ganz auszuschließen ist. Jürgen Wasim Frembgen, der Herausgeber dieses schönen Kataloges. wäre nicht Ethnologe, Anhänger des Sufismus und Kenner des modernen Islam, wenn sich nicht mehrere Beiträge mit der Kalligraphie im islamischen Alltag, mit Volksfrömmigkeit befassen würden. Hinterglasbilder, Farbdrucke, fantasievolle Schriftbilder, die aus Schriftzeichen Moscheen, Tiere oder Derwischmützen formen, Scherenschnitte, Sufiposter, Sticker und Anstecknadeln vermitteln ein Bild von der Präsenz der Kalligraphie im islamischen Alltag. Beispiel hierfür sind natürlich auch die bemalten Trucks und Busse Pakistans, über die wir mit Staunen erfahren dass es für die Platzierung der zahlreich vorhandenen Inschriften religiösen und profanen Gehalts feste Regeln gibt und dass der Kenner gar regionale Stilunterschiede zu unterscheiden vermag.
Das Buch ist auch in einer englischen Ausgabe erschienen. Es kosten an der Museumkasse (Softcover) € 29.–